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Jorge Sanchez-Chiong (*1969)

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Der Komponist über sein "Crin" für Sologeige (1996-97)

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Ob sich - wie zerstobene Mähne eines scheuenden Pferdes, das im dürren Baumstamm Zähne und Krallen eines riesigen Wolfes sieht - mein in Splitter zerborstener Vers erhebt? Nun, gleichwohl erhebt er sich! (José Julián Marti 1853-1895)

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Der kubanische Dichter José Julián Marti (1853-1895) lebte und starb als Freiheitskämpfer für Kuba. Der Mittelpunkt aber seines Schaffens war die  poetische Sprache. Das Gedicht "Crin hirsuta" - zu Deutsch "Pferdehaar" - zählt sprachlich zu seinen vollkommensten Texten. Inhaltlich ist es eine Hinneigung zum "Wildklingenden", eine Aufforderung zu Extrovertiertheit ("so als ob / eine Klinge sich in die Nacken eines / Stieres bohre, Blut soll zum Himmel spritzen"), die - vielleicht unerwartet - mit einer schlichten Aussage endet ("...Nur der Liebe entspringen Melodien"). Aus handwerklicher Sicht fällt das Kalkulierte der Ausführung als anscheinender Widerspruch zum Inhalt auf; - Martis Achtung fur Wissenschaft und methodisches Denken, stellte für ihn eine Voraussetzung fur das Schreiben dar.

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"Crin" ist aber auch ein Material des Geigenbogens: das Bogenhaar. Mein CRIN versucht - so wie Martis Text, Poesie über Poesie ist - durch die Sologeige Musik über Musik zu sein: die Parallele zur Literatur sind keine aussermusikalischen Einflüsse, sie sind bloss "das Musikalische". So lässt sich das Extrovertierte, das Wilde, das Komplexe und zugleich Schlichte als Hauptanliegen im ersten und gewissermassen auch im kürzeren zweitem Teil vom Crin erkennen. Beide Teile werden ohne Unterbrechung nacheinander gespielt und zeigen eine geringe Anzahl verschiedener Tonhöhen; das Stück ist, sozusagen, harmonisch statisch. Die harmonische Schlichtheit ist nicht technisch-kompositorisch, sondern spieltechnisch begründet: sie ermöglicht die Ausführung von Mehrklängen, Floskeln, linke-Hand-pizzicati und einer komplexen Rhythmik. Während der Entstehungszeit des Stückes hatte ich oftmals die Gelegenheit, mit der jungen Solistin Patricia Kopatchinskaja zusammenzuarbeiten und Fragen bezüglich des Geigenspiels auszuprobieren. Ihr ist CRIN gewidmet.                         

                                                                               

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Der Komponist über sein "Velodrom " für Violine und Klavier (2003)

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Nach fast sieben Jahren halte ich mein Versprechen: Aus "Crin" - einem Solostück für Patricia - habe ich eine neue Fassung für Geige und Klavier hergestellt. Von den ersten  Skizzen von 1996 ist allerdings nichts  übriggeblieben: Harmonie und Wohlklang sind kaum noch vorhanden, jetzt ist alles Energie - in ständiger Veränderung kreisende Geschwindigkeit, ohne absehbares Ziel. Meine Arbeit mit Improvisation und Elektronik hat auch die Klangvorstellung des Stückes geprägt. Es handelt sich um eine Art "Elektronik unplugged", nicht nur was den Sound anbelangt,sondern auch den Gestus: "Wenn du wirklich schreien willst, - sang der Rocker Charlie García - dann zieh das Kabel aus dem Lautsprecher raus!" Patricia und Christopher werden sich im Kreis verfolgen, sich anschreien wie im ersten Rausch eines Surrealisten. Sie werden aber niemals in denselben Fluß steigen. "Mit dreizehn betrank er sich zum ersten Mal in einer Kneipe in Zaragoza. Es war an einem Donnerstag. Er beschloss, die Schule zu schwänzen. In dem kleinen Kaffeehaus sassen Arbeiter, die auf dem Weg in die Fabrik waren. Die Kneipe hieß "El Velódromo."  (Max Aub über Luis Buñuel in "Die Erotik und andere Gespenster").

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"Velodrom" ist Patricia Kopatchinskaja und Christopher Hinterhuber gewidmet, Uraufführung im Wiener Musikverein am 13.3.03.

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